Klingt alles gleich-gültig von Nicola Pierce

Als Baby konnte mein Sohn nicht draußen schlafen, obwohl ich doch so von den Vorteilen überzeugt war. Bei jedem plötzlichen Motorengeräusch schreckte er auf und schrie lauthals.
Als Kleinkind, mit 3 Jahren, fing er stark an zu stottern. Jede Silbe wurde von ihm herausgepresst und mit einem Schlag auf den Oberschenkel begleitet. Einmal schaute er mich groß an und sagte - als Erkenntnis, völlig ohne Stocken - : „Mama, ich kann nicht mehr sprechen.“ Ich weinte, wusste ich doch nicht, wie ich ihm helfen sollte. Im Kindergartenalter sang er „Alle meine Entchen“ auf drei Tönen.Meinen Ohren war das alles fremd und erschreckend, ist doch meine innere Welt voll von Liedern, Tönen und Rhythmen. Die große Schwester sang im gleichen Alter jedes gehörte Lied tonrein, imitierte Tiergeräusche und machte sich mit 5 Jahren einen Spaß daraus, falsches Englisch (pidgeon english) zu sprechen.

Mit ungefähr 10 Jahren, wurde dann bei meinem Sohn eine Hörwahrnehmungsstörung diagnostiziert. Alle Geräusche werden dem Gehirn als gleich-gültig weiter geleitet. Kein automatischer Filter, der das Unwichtige ausblendet. Alles gleich-gültig. Das Scharren von Füßen, Stimmen auf dem Gang, eine tickende Uhr, das Gluckern der Heizung, Gemurmel der Mitschüler, Stifte auf dem Papier, die Stimme des Lehrers.

Ein Schock für mich. Verunsicherung. War für meinen Sohn eine Schule, nach modernen Richtlinien, wie er sie besuchte, mit wenig Frontalunterricht überhaupt das Richtige? Welchen Weg konnte er schulisch und später beruflich gehen?

Parallel entwickelte sich etwas, was ich erst rückblickend in seiner Gänze sehe: Mit viereinhalb Jahren entdeckte mein Sohn eine Bongo, die ich vom Schrott mitgebracht hatte. Anders als andere Kinder trommelte er vom ersten Moment an Rhythmen. Ich suchte und fand für ihn eine Kinder-Djembegruppe, in der er mit 5 Jahren der jüngste war und in der er sich in das dort stehende Schlagzeug verliebte. Auch dort vom ersten Moment an kein Spielzeug (Bumm,-, Bimm, Tusch, Päng, Boing) sondern Instrument (BimmBimmBimm,-, BammBammBamm,-, BummBummBumm,-, Tusch). Ich war erstaunt, dass er die Lautstärke und Heftigkeit mochte, bei seiner Geräuschempfindlichkeit.

Ich gab ihm das Versprechen auf ein eigenes Schlagzeug, sobald wir keine Nachbarn mehr Wand-an-Wand haben würden, nicht ahnend wie konsequent er dieses Versprechen verfolgen würde. Eineinhalb Jahre später, nach einem Umzug in ein Einfamilienhaus und nach bereits 6 Monaten Schlagzeugunterricht ohne eigenes Instrument, sagte er: „Mama, Du hast doch mal gesagt …“ So bekam er zum Geburtstag ein Schlagzeug und weiteren Unterricht. In der 4. Klasse überzeugte er seine Musiklehrerin von seinem Können und wurde jüngstes Mitglied in der Schulband. Er begleitete ein Musical und mehrere Auftritte bei Entlassfeiern und der Verabschiedung des Schuldirektors.

Als seine Schwester Gitarre lernte, kaufte er sich eine E-Gitarre und brachte sich Akkorde und Pickings nach Internetvideos bei. Er konnte nur vom Hören eines fremden Liedes sagen, welche Akkorde dazu passen. Wenn er auch nicht singen konnte, so doch sehr genau hören. Auch auf dem Keyboard und dem Schul- Klavier/Flügel brachte er sich Akkorde und Liedbegleitung selbst bei. Für mich wurde immer sichtbarer: „Er ist ein Musiker mit Leib und Seele!“ Doch sein Berufswunsch damals: „ Irgendwas mit Computer“. Jemand hatte ihm deutlich geraten, ja nicht sein Hobby zum Beruf zu machen.

Die Oberstufe brachte neue Hindernisse und Ideen. Zum ersten Mal seit Jahren kam kein Musikprofil zustande. Mein Sohn – ein Musiker durch und durch - musste sich mit dem Kunstprofil begnügen. Kurzerhand besuchte er freiwillig Parallelklassen im Musikunterricht und schrieb freiwillig Klausuren mit. – Und – Er entdeckte ein weiteres Instrument für sich – Das Saxophon.

Mir war immer noch schleierhaft, wie mein Sohn seine Musikleidenschaft nur als Hobby weiterführen wollte. Was für eine Verschwendung von Hingabe an eine Sache. Doch er hatte längst einen Plan.
Bei der Verabschiedung der Zehntklässler erlebte er, wie alle Bläserklassen (5.-10.Klässler, also ca. 100 Schüler) gemeinsam ein Stück unter der Leitung eines der Musiklehrer spielten. Das, was er da sah, wollte er auch. Zu seinem Abitur, so nahm er sich fest vor, wollte ER dort oben, vorne stehen und alle Bläser dirigieren nach einem selbst komponierten Stück.

Er fing an, die Partituren für seine Lehrer zu schreiben und wurde Schlagwerker in einem symphonischen Blasorchester. Bei einem Konzert konnte ich sehen, wie er von ganz hinten aus, alle Musiker und Einsätze im Blick hatte, wie der heimliche Dirigent aus der letzten Reihe.

Inzwischen ist nur noch 1 Jahr bis zum Abitur, das Stück für die eigene Entlassfeier ist bereits in Arbeit und der Berufswunsch steht fest!

Dirigent!

Durch die Hörwahrnehmungsstörung ist er in der Lage jedes noch so kleine Instrument gleich-gültig zu hören und hat das Ziel Menschen mit Musik zu begeistern und glücklich zu machen.

So wandelt sich sein größtes Handicap in sein größtes Talent.

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