An der Schwelle
2015 starben im Abstand von jeweils 3 Monaten mein Vater und meine beiden engsten Freundinnen. In dieser Zeit schwappte dieser andere, dieser viel größere Raum weit hinein in mein Leben und ich stand mit ihnen an der Schwelle dahin. Es war wunderbar.
Mein 98jähriger Vater machte den Anfang. Noch zwei Wochen vorher hatte ihm der Arzt eine – gemessen an seinem Alter - gute Gesundheit bescheinigt, doch er wusste, dass seine Zeit gekommen war und legte sich ins Bett. Sein letztes Buch für die Ahnenforschung war fertiggestellt und 5 Monate zuvor der Öffentlichkeit vorgestellt worden, alle finanziellen Dinge waren geregelt und das wichtigste: Beim letzten seiner beharrlich organsierten Familientreffen zu Weihnachten waren tatsächlich alle seine Kinder, Enkel, Urenkel und sogar zwei Ururenkel anwesend. Alle Kämpfe, alle Vorwürfe, alle heftigen Auseinandersetzungen, die ihn betrafen, waren befriedet und er hatte seinen Teil dazu beigetragen, indem er die Hand zur Versöhnung ausgestreckt hielt. Über den Tod gab es nichts zu reden, Angst hatte er keine – und so starb er zwei Wochen später friedlich im Schlaf. Einen Tag später, beim Yoga, fühlte ich ihn, wie er sozusagen die Übungen mitmachte. Er war glücklich und bewegte sich auf eine leichte und fröhliche Weise, wie ich ihn zu Lebzeiten nie erlebt hatte. „Wenn ich gewusst hätte, wie leicht alles gehen kann…“ lachte er und schlug fast Purzelbäume. So schön, ihn von seiner menschlichen Starre und Begrenztheit erlöst zu erleben! Als hätte ich ihn endlich wirklich erlebt.
6 Wochen danach entschied meine engste Freundin, in ein Hospiz zu gehen. Gemeinsam waren wir in den letzten Jahren durch verschiedenste Wellentäler gegangen: Zuversicht und Enttäuschung, Trauer, immer wieder Angst und immer wieder Eintauchen in die große göttliche Liebe und den tiefen inneren Frieden. Ich war sehr dankbar, sie begleiten zu dürfen und bewunderte ihre innere Stärke und ihr großes liebendes Herz. Schließlich hatte sie die Entscheidung gegen weitere Behandlungen getroffen und die Zeit genutzt, um alles zu ordnen. Nach zwei Wochen im Hospiz stand sie nicht mehr auf. Sie hatte inzwischen auch nicht mehr die Kraft, in ihren tiefsten inneren Frieden einzutauchen und bekam Morphium gegen die Angstattacken. An ihrem letzten Abend bat sie den Arzt, die Morphiumpumpe abzustellen, um sich mit mir unterhalten zu können. „Was passiert hier mit mir?“ fragte sie mich. „Du bist auf dem Weg nach Hause“. Als hätte es dieser Worte noch bedurft, damit sie den letzten Widerstand aufgeben konnte: „Ach so – natürlich! Was habe ich denn gedacht, weshalb ich hier bin“, musste sie über sich selbst lachen. Dann schickte sie mich weg.
Nachts wachte ich auf, erst voller Unruhe, dann spürte ich in meinem Herzen so etwas wie ein explodierendes und doch sanftes, warmes Licht und „hörte“ darin den Satz „Ich bin bereit“. Morgens erreichte mich der Anruf, dass sie in der Nacht ihren Körper verlassen hatte, allein, ganz friedlich, ohne Atemnot und offensichtlich ohne Angst.
In mir fühlte (und fühle) ich meine Freundin: lachend, glücklich, voller überbordender Liebe und Freude, heimgekehrt in die große liebende Einheit – „Ich tanze den Tanz meines Lebens bis zur Ekstase meiner Befreiung…“ Ihr Lebensmotto hat sich erfüllt.
Es dauerte danach nur 5 Wochen, bis auch meine andere Freundin, die sich bis dahin in einer Gästewohnung bei uns noch selbst versorgt hatte, auf die Palliativstation kam. Und dort nur 10 Tage, bis Rainer und ich sie auf ihrem letzten Weg begleiten durften. Sie erkannte uns schon nicht mehr und griff mit den Armen in die Luft, als würde etwas vor ihr liegen. Es war so ein kostbarer gemeinsamer Moment: Rainer bewegte sanft ein Klangspiel, ich hielt ihre Hand und fühlte in ihrem Herzen so viel Licht, immer mehr Licht. Ich spürte, wie es sie dorthin zog. Ihr Körper wurde ruhiger, der Atem langsamer, schließlich setzte er aus und das Herz hörte auf zu schlagen. Stille. Sie war ins Licht gegangen.
Und wir durften dabei sein – was für ein unermessliches Geschenk!
Ja, ich vermisse diese 3 Menschen, die lange Zeit mein Leben begleitet haben. Doch ich trauere nicht wirklich. Denn viel wichtiger ist: Sie haben für mich die Tür weit geöffnet, hinein in dieses größere Sein, dieses wunderbare Mysterium, das in meinem menschlichen Dasein nur zu erahnen und von meinem Denken nicht zu erfassen ist. Diese göttliche Dimension in jedem Moment meines Lebens mit zu erahnen – das wäre eine wunderbare Erfüllung meines Lebens.
Nuriama
Erfahrungen eines Klinikclowns auf einer Palliativstation
Wenn ich mir nach dem Umziehen die „rode Nase“ aufsetze, bin ich automatisch in einem anderen Space. Dann fühle ich mich sicher und geborgen in meinem so-sein, wie ich gerade bin. Dann ist mein innerer Scanner auf „on“ und ich gehe los, immer mit der Haltung: „Ich habe keine Ahnung (warum etwas geschieht)!“ Diese innere Haltung gibt mir die Freiheit, alles anzunehmen was mir begegnet. Als Clown will ich von niemanden etwas. Das mag auch der Grund sein, warum die Menschen auf der Station mir als Clown oft vertrauen und mir (sehr intime) Dinge erzählen, die sie sehr beschäftigen. Natürlich wird auch gewitzelt und gelacht oder gestaunt, wenn ich etwas zaubere.
„Rühre dich nicht, bevor du berührt bist!“, das waren die Worte meines Clownslehrers, die mir sehr eingänglich waren. Oft wird dieses Berührtsein zwischen uns zum Beispiel durch ein Lied ausgelöst: „Nun bin ich schon über 74 und plötzlich fange ich hier an zu weinen, das habe ich nie gemacht.“ „Endlich! Das ist wunderschön“, war meine spontane Antwort und dann habe ich den alten Mann in den Arm genommen und wir haben beide ganz still nebeneinander gesessen, bis das Schluchzen vorüber war. Das war ein schöner Moment - für uns beide.
Einmal kamen wir auf ein Zimmer, auf dem ein junger Mann lag, Anfang 30. Sein Vater saß am Bettende, verzweifelt, schier untröstlich: „Ich schaffe das nicht, mein Sohn soll nicht sterben.“ Der Sohn vertraute mir Clown jedoch nach nur 5 min an, dass er sterben möchte. Er war also in dem Konflikt mit seinem Vater gefangen, der ihn überhaupt nicht gehen lassen konnte. Wir schauten uns an, ich nahm seine Hand und ganz spontan kam es tief aus mir heraus, leise, dass der Vater es nicht hören konnte: „Du darfst gehen.“ Ich gab ihm als Clown, also als der Mensch, dem er in dem Moment vertraute und der absolut nichts von ihm wollte (!), die Erlaubnis zu sterben. Dem Vater sagte ich dann beim Verabschieden, dass er das schaffen wird, den Tod seines Sohnes zu überstehen. Wie ich dann etwas später erfahren habe, ist dieser junge Mann 36 Stunden nach unserem Besuch „gegangen“. Ich habe begriffen, wie wichtig es ist, die eigenen Ängste und Vorstellungen über Sterben und Tod loszulassen und jemandem das Sterben(wollen) zuzugestehen. Damit gebe ich den Betroffenen wie den Angehörigen einen Teil ihrer Würde und Selbstverantwortung zurück.
Eines Tages hatte ich eine liebevolle Begegnung mit einer Frau, Anfang 40, die dem Sterben sehr nah war. Ich spielte ein Lied für sie und wir teilten einen warmen, berührenden Moment miteinander. Auf dem Weg nach Hause kamen mir dann diese Zeilen und eine passende Melodie dazu:
Ich schenk dir meine Liebe, ich schenk dir mein Sein,
in diesem Moment, für diesen Moment.
Ich bin bei dir, du bist nicht allein,
in diesem Moment, für diesen Moment.
Ich schau dir in die Augen, berühre sanft dein Herz,
in diesem Moment, für diesen Moment.
Dieses Lied drückt für mich genau das aus, was ich in den etwa 10 Minuten bei ihr im Zimmer erlebt habe und wie ich meinen Einsatz als Klinik-Clown empfinde.
Ich habe diese Frau nicht wieder gesehen, ich hätte ihr das durch unsere Begegnung entstandene Lied gerne einmal vorgesungen – Danke für diese Begegnung.
Rainer Lichterstein
Meine Grabrede
Eine tief beeindruckende Begegnung mit dem Tod „ereilte“ mich im Rahmen einer Seminarwoche. Wie aus heiterem Himmel hieß es plötzlich: „Euch bleibt eine Stunde Zeit, die eigene Grabrede zu schreiben. Was möchtet ihr euren Hinterbliebenen mitteilen?“
Ein letzter Gruß vor meinem Tod? Ich brauchte eine Weile, um mich in dieses Thema einzuschwingen. Es kam so plötzlich! Mit einem Mal floss es nur so aus meiner Feder heraus…..
Ihr Lieben!
Jetzt - da ich nur noch kurz für euch sichtbar bin, möchte ich mich bei all jenen bedanken, die mein Leben geteilt haben. Rückwirkend betrachtet, war es eine große Freude, all die großen und kleinen Abenteuer gemeinsam mit euch zu erleben. Meinen Eltern danke ich dafür, dass sie mich ins Leben gebracht und mit viel Arbeitsfreude, gemeinsamen Umzügen und einer immer größer werdenden Familie doch immer alle „satt“ bekommen haben und sogar noch die Kraft hatten, ein eigenes Heim zu bauen. Meiner eigenen Familie sage ich Dank für ihr Dasein und das Erlebnis, länger an einem Ort zu wohnen, sodass meinen Kindern die Chance auf einen von klein auf gewachsenen Freundeskreis möglich war. Ich stelle heute fest, dass ich sehr bemüht war, immer alles zu schaffen und für alle zu sorgen; wodurch ich teilweise den Raum der anderen begrenzt und Bedürfnisse nicht gesehen habe. Ich habe wohl zu oft versucht, eine schnelle Lösung in schwierigen Situationen zu finden, statt liebevoll unterstützend für euch da zu sein. Heute sehe ich, wie wichtig diese gemeinsam durchlebten Prozesse sind, wie sehr sie Menschen miteinander verbinden und für gegenseitiges Vertrauen sorgen. Verzeiht mir bitte, ich hatte oft nicht den Mut, meine Emotionen und Empfindungen frei auszusprechen. Zu viele stark besetzte Erinnerungen waren damit verknüpft. Hätte ich noch einige Zeit mit euch gemeinsam, würde ich an meinem authentischen Selbstausdruck arbeiten und einen großen Schwerpunkt auf gemeinsame Prozesse legen. Doch ich möchte euch auch sagen, dass ich euch liebe und euch auch nach meinem Tod weiterhin begleite. Fühlt euch umarmt und gedrückt, lebt euer Leben, verwirklicht eure Träume, zeigt Emotionen, kommuniziert offen und ehrlich und traut euch, das Abenteuer eures Lebens zu verwirklichen. Das wünsche ich ebenso all meinen Freunden und Wegbegleitern aus den unterschiedlichsten Lebensabschnitten. „Und wenn es regnet: springt die Pfützen leer“ :-)
Ciao, in Liebe, Johanna
…und dankbar für diese Möglichkeit begab ich mich wieder in den Seminarraum. Dort wartete die nächste Überraschung: Auf ein Totenlager gebettet und von Kopf bis Fuß in ein Laken gehüllt, „erlebte“ ich im Kreis meiner Seminarkolleg(inn)en, wie bei leiser Musik meine letzten Worte vorgelesen wurden. Plötzlich durchströmten mich Wellen des Schmerzes und Bedauerns. Warum hatte ich all dies nicht schon zu Lebzeiten kommuniziert? Das alles verstärkte sich noch, als ich im anschließenden „Küchengespräch“ den Worten meiner „Trauergemeinde" lauschte. Mit dem Lüften des Leichentuches kehrte ich sehr bereichert durch diese Erfahrung zurück ins Leben.
Flieg, Seele, flieg von Holger Stenkamp
Die kostbare Zeit zwischen Tod und Bestattung
Dienstags stehe ich auf dem Wochenmarkt in Plön und verkaufe frisch zubereiteten Kaffee.
Falle ich dort tot um, werden die Kollegen und Marktbesucher sagen: "Da liegt Herr Stenkamp, tot". Sähen dieselben Leute meinen Leichnam fünf Tage später, käme keiner mehr auf die Idee, dass ich dort liege, sondern alle würden nur noch meine Hülle sehen. Aber wo bin ich? Was ist passiert? Wann ist es passiert? Hat wer etwas bemerkt? Fast alle Menschen auf der Welt glauben beim Tod an eine Trennung des Körpers von etwas, was wir gemeinhin als Seele bezeichnen. Keiner kann es beweisen, aber auch nicht das Gegenteil. Keiner weiß, wie oder wann die Seele sich aufmacht. Reste von alten Ritualen im Unterbewusstsein lassen uns in der Todesstunde die Fenster öffnen und eine Kerze entzünden. Und dennoch werden die Verstorbenen schon nach wenigen Stunden von Bestattern abgeholt und in die Technik gebracht, warten in der Kühlung in einem Keller auf die Bestattung, vielleicht noch auf eine Trauerfeier davor. Ich vermag nicht zu glauben, dass sich meine Seele in dieser Situation wohlfühlen und leichtens sich lösen kann. Noch glaube ich nicht, dass die Seelen der Zurückgebliebenen damit einverstanden sein können.
Wie wir mit dem Tod umgehen, ist unsere Entscheidung. Nicht die einer Glaubensgemeinschaft, nicht die der Tradition, nicht die der Nachbarschaft, nicht die des Bestatters. "Wenn ich gewusst hätte, was ich hätte machen können, wäre ich aktiver gewesen" ist eine Aussage, die ich oft über vergangene Todesfälle höre. Gemeint ist damit aber nicht ein hektischer Aktionismus, der sich in den Neukauf von schwarzen Schuhen und dem Organisieren eines Friseurtermin kurz vor der Trauerfeier erschließt. Raum und Zeit sind hier die wichtigsten Faktoren. Die verstorbene Person und die Zurückgebliebenen brauchen eine geschützte Umgebung, um das gemeinsame Leben langsam ausklingen zu lassen, um die Seelen sich verabschieden zu lassen. Die Bestattungsgesetze lassen auch eine längere Aufbahrung zum Beispiel zu Hause, auch nach einem Tod in einem Krankenhaus, zu.
Bei dem Verstorbenen bleiben, zur Ruhe kommen, eine Kerze anzünden. Es ist die kostbare Zeit, die nun kommt, es gibt sie nur einmal und sie ist spannend. In einer freundlichen Umgebung wird bestimmt eine innere Zwiesprache entstehen. Versäumtes und ungelöstes in der Beziehung darf noch einmal Platz haben, ebenso die vielen guten Erinnerungen. So können Gefühle und Wünsche für die weitere Zeit wahrgenommen werden. Vielleicht soll für die Verstorbene noch eine Decke genäht werden oder ein Portrait gezeichnet, der Sarg mit Fotos beklebt, die Liebesbriefe unters Kissen gelegt, der Sarg mit Rosen aus dem Garten ausgekleidet, das Lieblingslied gespielt, die Flasche Likör geleert, die Tür endlich geölt, das Licht repariert werden. Ideen für eine wahrhaftige Trauerfeier entstehen, die Beisetzung nimmt Formen an. Und in dem ganzen Dasein und guten Tun wird vielleicht der besonderer Moment kommen, in dem klar wird: "Jetzt ist sie gegangen, jetzt ist es gut". Der Sargdeckel kann geschlossen werden.
Flieg, Seele, flieg.
Keine Wiederbelebung! von Christine Seeburg
Karin ist strahlender Mittelpunkt Ihrer Feier zum 75. Geburtstag, sie hat zum Brunch eingeladen und ein großer Freundeskreis erweist ihr die Ehre. Gegen Nachmittag, die Runde löst sich langsam auf, kommt die Gastgeberin an unseren Tisch und bittet Maren und mich, nach der Veranstaltung noch ein wenig zu bleiben, sie möchte etwas sehr Persönliches mit uns besprechen. Als Ruhe eingekehrt ist, setzt sie sich zu uns.
"Ihr Lieben, mit Mitte fünfzig seid Ihr meine jüngsten Freundinnen, auch deshalb möchte ich mit meinem Anliegen an Euch herantreten. Maren, Du bist Heilpraktikerin - Christine, Du Sozialarbeiterin - in gewisser Weise ergänzt ihr euch, uns drei verbindet der Zugang zur Spiritualität. " Die Stimmung wird ernster.
"Mit meinen 75 Jahren befinde ich mich nun unweigerlich im letzten Viertel meines Lebensbogen. Älter als Hundert werde ich keinesfalls"! fügt sie hinzu. "Unsere westliche Gesellschaft ist im Hinblick auf die Vergänglichkeit des Lebens geprägt von Angst und Verdrängung; dabei gehört der Tod zum Leben, ich denke, sogar als Dach aller Religionen und Glaubensrichtungen".
Ich schaue bedrückt zu Maren, was mag jetzt kommen? Ist unsere Freundin schwer krank, vielleicht bereits dem Tode nahe??
"Ich würde mich freuen, wenn Ihr Euch bereit erklären könntet, meine Vorsorgevollmacht zu übernehmen, für den Fall, dass ich in einen Zustand gerate, in dem ich nicht mehr im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte wäre. Ausserdem habe ich eine Patientenverfügung vorbereitet und detailliert ausgeführt, was mein Wille im Falle eines dauerhaften Komas oder des Sterbeprozesses ist. Ich habe mich genau informiert über lebensverlängernde Maßnahmen und darüber, mit welchen Methoden sterbende Patienten teilweise nicht aus dem Leben 'entlassen' werden. Oft gesteuert von Angst, Unerfahrenheit, dem hippokratischen Eid, aus Profitgründen, oder einer Mischung aus alldem. Ich will meinen Tod sterben- die Seite unbehelligt wechseln dürfen- wenn es soweit ist; auch wenn ich mich selbst nicht mehr mitteilen könnte."
Karin legt je ein Exemplar ihrer Verfügungen vor uns auf den Tisch.
"Vielleicht mögt ihr es mal in Ruhe durchlesen und darüber nachdenken; in vier Wochen treffen wir uns wieder. Mir ist durchaus bewusst, dass der Ernstfall eine große Herausforderung bedeuten würde, deshalb möchte ich zwei Personen bevollmächtigen. Es wäre nicht in meinem Sinne, dass ein fremder Mensch meine rechtliche Betreuung übernimmt, der mir ebenso unbekannt ist, wie ich ihm. Unserer Freundschaft tut es keinen Abbruch, wenn ihr Euch nicht zur Übernahme bereit erklären könnt. Seid bitte ehrlich, euch selbst und mir gegenüber, dass zeichnet unsere aufrichtige Beziehung zueinander aus. Schließlich geht es hier nicht um ein gemeinsames Urlaubsziel“ fügt sie augenzwinkernd hinzu. Lachend fährt sie fort, „und mit 90 schenke ich mir eine Tätowierung auf dem Brustkorb zum Geburtstag!“
"Also Karin" wirft Maren ein "noch bist Du aber im Vollbesitz Deiner geistigen Kräfte, oder?"
"Nicht wiederbeleben, ich bin über 90 Jahre alt!" unterbricht diese unser Gelächter. "Wie bitte?" ich verstehe nicht. "Das wird mein Tattoo; damit kein Notarzt meint, meinen Körper wiederbeleben zu müssen bis die alten Rippen brechen, falls ich das Glück habe 92jährig mit der Nase voran, hirntot in meinem Gemüsebeet zu liegen, unter mir die Mutter Erde und über mir das -meine Essenz empfangende- Universum. Ich will nicht bewusstlos, umgeben von Hightech Medizin, auf der Intensivstation liegen, bis meine Verfügung durchgesetzt ist.
Wenn meine Zeit gekommen ist, dann wünsche ich mir, ohne Umwege ins Licht gehen zu können. Loslassen ist das Zauberwort."
Nachdenklich mache ich mich auf den Heimweg. Eine radikale Pionierin war Karin schon immer, aber die Sache mit der Tätowierung schockiert mich ein wenig.
Meine Recherchen im Internet ergeben, dass diese Form den letzten Willen kundzutun gar nicht so außergewöhnlich ist.
Mögen das Alter, Sterben und der unausweichliche Tod wieder als ein natürlicher Prozess akzeptiert werden; auch ohne ein Tattoo auf der Brust! Vielleicht gelingt es, wenn immer mehr Menschen aufeinander zugehen und offen über das Sterben sprechen - so wie Karin es tut. Vielleicht trägt Aufklärung und Gemeinschaft zur Stärkung einer würdigen Sterbekultur bei.
Es ist mir eine Ehre für meine Freundin die zu Vollmacht übernehmen und im Notfall, alles in meinen Möglichkeiten stehende zu tun, um ihre Wünsche durchzusetzen.
Vor allem aber hoffe ich von ganzem Herzen, dass uns noch viele gemeinsame, glückliche und das Bewusstsein erweiternde Jahre geschenkt werden…